(Katalog: Was am Tage übrig blieb)
Vorwort: Dr. Hartwig Heckel
Tag für Tag bestürmen uns Bilder. Sie dringen auf uns ein, sobald wir am Morgen die Augen öffnen. Sie stehen vor unseren Fenstern und Türen. Sie säumen jeden Weg, den wir gehen. Jedes Bild, auf das wir uns einlassen, bringt zahllose weitere mit, wie ungeladene Besucher, die abzuweisen unsere guten Manieren verbieten. Ungeduldig verlangt ein jedes nach unserer Aufmerksamkeit, und dabei eifern und zanken sie wie verwöhnte Kinder. Wir wollen sie uns vom Leibe halten, doch alles, was wir tun können, ist, den Blick von Ihnen abzuwenden und ihn auf wieder andere Bilder zu richten. Und auch wenn wir unsere Augen schließen, bleiben sie in unserer Nähe, schlendern scheinbar zufällig in einigem Abstand hinter uns her, allein, paarweise und in kleinen, wechselnden Gruppen, um dann unerwartet wieder neben uns zu stehen.
Es sind diese allgegenwärtigen Bilder, aus denen die Collagen von Heike Sackmann zusammengesetzt sind. Wer die Kompositionen betrachtet, entdeckt sie mühelos wieder, jene Bilder, die uns vorschlagen, was wir tun könnten, die uns zeigen, was wir essen und trinken sollen, wie wir uns kleiden sollen, wo-von wir träumen und was wir begehren sollen. Doch die überraschenden und verfremdenden Aus-schnitte und Kombinationen, in denen uns diese Bilder präsentiert werden, eröffnen uns die Möglich-keit, die Dinge in neuen Zusammenhängen zu betrachten, andere Perspektiven einzunehmen und auf das aufmerksam zu werden, was uns bisher verborgen geblieben ist.
Uns ergeht es dann vielleicht wie der Figur in dem Bild „Fundsache“: Die Umgebung, in der wir uns befinden, ist in gleichförmiges Blau getaucht. Sie scheint dazu angelegt zu sein, uns gegen allerlei Reize abzuschirmen. An den Fenstern, die der Hausfassade ihren monotonen Rhythmus verleihen, sind die Jalousien heruntergelassen. Ein Vordach sorgt dafür, dass der größte Teil unserer Welt im Schatten liegt. Helles Licht fällt nur auf den Pfeil, der von oben her mit großem Nachdruck einen Weg zu weisen scheint. Liefert er eine Antwort auf die Frage, wohin wir uns wenden sollen, was wir tun sollen? Ja – doch von dem, was wir als mit Freiheit und Verantwortung ausgestattete Wesen tun sollen, von den officia der praktischen Philosophie, ist nur mehr ein heruntergekommenes „office“ übrig geblieben. Das ist die Umgebung, in der wir uns bewegen, als plötzlich etwas unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht. Wir schauen zur Seite, richten den Blick aus unserem wie von einem Regenschirm begrenzten Ge-sichtskreis heraus, wenden ihn ab von unserer gewohnten Umgebung und von der Marschrichtung, die uns in ihr vorgegeben ist. Und wir entdecken am äußersten Rand unserer Wahrnehmung, schon auf der Grenze zu einer anderen Welt, eine exotische, glänzende, lockende (verbotene?) Frucht.
Die Figur, die hier mit der an Implikationen reichen „Fundsache“ konfrontiert wird, ist ein Fabelwesen. Der Leib ist der einer modisch gekleideten Frau; auf den Schultern jedoch sitzt der überproportional große Kopf einer Katze. Solche grotesken Mischwesen, die bei Betrachtern bald Belustigung, bald Verstörung hervorrufen, finden sich wiederholt in Heike Sackmanns Collagen. Sie deuten darauf hin, in welcher Gefahr wir schweben, unser menschliches Antlitz zu verlieren. Besonders anschaulich wird dies in „Frau Mahlzahn hat den Gipfel erreicht“, wo ein mit Krawatte, aufgekrempelten Hemdsärmeln und Schnürstiefeln zum dynamischen Businessman ausstaffiertes Zebra lässig und selbstbewusst auf einem Hochhaus thront. Unter dem Thema an der Oberfläche – das Leittier im modernen Großstadt-dschungel – lauern ironische Brechungen: Ein Zebra ist eben kein stolzes Ross, sondern ein kleines Pferd in einem lächerlichen Anzug, und auch als Leithengst bleibt es ein Fluchttier, das seinen Platz am weniger attraktiven Ende der Nahrungskette niemals wird verlassen können.
Ebenfalls sein menschlichen Wesen abgelegt hat das schick gewandete Paar in „Die Zeit ist reif“. We-der die elegante Aufmachung noch der beschwörend eingeblendete Name eines berühmten Mode- und Kosmetikkonzerns vermögen uns über die gemauerte Tristesse der Welt hinwegzutäuschen, in der die beiden posieren. Dass sie die Köpfe von Eseln tragen, ist keine Denunziation oder Beleidigung. Durch die zärtliche Nähe zueinander und die augenscheinliche Intimität ihrer Kommunikation wirken sie vielmehr zutiefst menschlich, vermögen auch Rührung und Mitgefühl zu wecken und zur Identifikation einzuladen. Unterstrichen wird dies durch ein Bildelement, das geradezu dramatische Spannung er-zeugt: Unbemerkt von dem Paar hält eine Hand hinter ihnen eine Stoppuhr wie ein Warnschild in die Höhe, richtet auf diese Weise ein eindeutiges memento mori an den Betrachter und fordert ihn auf, sich selbst zu prüfen, ob er wirklich frei ist von törichter Eitelkeit.
Heike Sackmanns Bilder rufen freilich nicht dazu auf, der Welt zu entsagen, weil in ihr ohnehin alles eitel sei. Der gegenteilige Eindruck entsteht beispielsweise, wenn man, ausgehend von der Collage „Fundsache“, das Motiv der Frucht weiterverfolgt. In „Wenn der Vorhang fällt“, einem weiteren Bei-spiel für die Thematik des memento mori, erscheint der Tod als ein Würfelspieler in Cowboykluft, der hinter der im Vordergrund stehenden Mädchengestalt bereits den finalen Wurf zu tun scheint. Das Mädchen, dessen Kopf wir nicht sehen, hält in seinen Händen einen Korb mit Äpfeln. Die Kompositi-on mit der nur für den Betrachter sichtbaren Todesdrohung im Rücken der Hauptfigur erinnert an „Die Zeit ist reif“, und wie dort entdecken wir auch den auf Äußerlichkeiten, Luxus und Konsum ver-weisenden (hier allerdings blasseren) Markennamen. Anders als dort ist die Figur im Vordergrund je-doch nicht durch einen Tierkopf charakterisiert. Durch den knapp unter den Schultern verlaufenden oberen Rand des Bildausschnittes ist alles Individuelle beseitigt: Man sieht einen Menschen, offensicht-lich ein Kind; Haltung und Ausstattung signalisieren Arglosigkeit und Unschuld. Spannungsreich ist das Motiv der Äpfel im Korb: Der Mensch, den wir sehen, hat sich – wie die Figur in „Fundsache“ – den lockenden Früchten dieser Welt zugewandt, hat sie eingesammelt. Aber der letzte Würfel rollt schon, bevor alle Früchte genossen werden konnten.
Eine Zuspitzung erfährt die sich in den betrachteten Bildern andeutende Auseinandersetzung mit unse-rer Diesseitigkeit und Endlichkeit in „Schwierige Entscheidung“. In der titelgebenden Entscheidungssi-tuation befindet sich eine flamingohäuptige Frau. Die Szenerie, in der sie sich befindet, ist etwas ober-halb der Bildmitte durch einen Horizont geteilt. Von oben nähert sich mit wie zum Kuss gespitzten Lippen das Maul eines Affen. Zu Füßen der Frau sieht man drei Gehirne, die dem Boden wie Pilze zu entsprießen scheinen. Die Entscheidung, die hier angedeutet wird, ist eine Entscheidung zwischen „dort oben“ und „hier unten“, zwischen den Zonen des Himmels und der Erde, zwischen Transzen-denz und Diesseitigkeit. Die Flamingofrau wirkt noch unentschlossen, aber das Bild selbst hat seine Entscheidung schon getroffen: Der von oben angebotene „göttliche“ Kuss ist in Wirklichkeit der (töd-liche?) Kuss des schimpansenköpfigen Wesens, das in der Collage „Einsamer Flamingokiller“ zu sehen ist. Dem stellt die diesseitige, weltliche Zone des Bildraumes mit den in wissenschaftlich-anatomischer Manier gezeichneten menschlichen Gehirnen etwas entgegen, das als Symbol für Intellekt, Rationalität und Aufklärung gelesen werden kann.
Wie die Möglichkeiten unserer Existenz uns umdrängen, wie sie Stellungnahmen und Entscheidungen von uns fordern – das ist ein weiteres Thema, von dem Heike Sackmanns Collagen erzählen. Das for-dernde Wesen der Erscheinungen kann durchaus dämonische Züge annehmen. In „Du musst Dich …“ sehen wir den mit der Wahl zwischen Möglichkeiten konfrontierten Menschen, dessen Zeit unbarm-herzig abläuft. Auf der einen Seite droht ein Vampir, auf der anderen Seite heulende Wölfe. Die Zif-fernfolge, die wie ein Motto über allem schwebt, ist eine Kippfigur: Eben noch weckt sie den ange-nehmen Kitzel, den die freie Auswahl – „Eins, Zwei oder Drei?“ – zu wecken vermag, dann wieder scheint sie wahr machen zu wollen, was uns schon längst in drohendem Ton gesagt wurde: „Ich zähle jetzt bis drei …!“ Dass wir als Menschen frei wählen können, wer wir sein wollen und wie wir leben möchten, erscheint hier ins Negative gewendet: Wir dürfen nicht, sondern wir müssen wählen, und je länger wir die Entscheidung hinauszögern, desto fragwürdiger wird unsere Wahl, weil uns am Ende die Zeit fehlen wird, das Leben, das wir gewählt haben, auch zu führen. Die Collage macht diesen existen-tiellen Entscheidungszwang sichtbar und nachfühlbar. Zugleich aber regt sie dazu an, den Lauf der Uhr für einen Moment der Betrachtung anzuhalten und aus der Situation herauszutreten. Der Betrachter kann sich fragen: Wer gibt die Möglichkeiten vor, zwischen denen ich wähle? Sind es wirklich nur drei? Welche Möglichkeiten wurden mir nicht angeboten, und warum? Wer bestimmt den Zeitpunkt der Entscheidung?
Indem sie diese und ähnliche Fragen unserer Existenz aufgreifen, schürfen Heike Sackmanns Collagen tief. Sie tun das mit Mitteln, die durchweg der glänzenden Oberfläche der Dinge entnommen sind, der Welt der auf uns eindringenden und uns manipulierenden Bilder. In diesem Zusammenhang kann die Collage „Die Weltaufsaugerin“ als Teil eines poetologischen Programms betrachtet werden. Sie be-schreibt unser Bewusstsein metaphorisch als einen Schwamm, der sich mit Eindrücken füllt. Heike Sackmanns Arbeiten geben solche gleichsam aufgesogenen Bilder wieder, und wie ein Schwamm das, was er aufgenommen hat, nicht getrennt wiedergibt, sondern in unauflösbarer Vermischung, so sind auch in den Collagen die Eindrücke und Bilder scheinbar willkürlich vermengt. Und doch vermögen sie dem Betrachter tiefere Einsichten zu eröffnen. Durch ihr von Regeln und Grenzen unbehelligtes freies Spiel mit den Bildern befreien uns die Collagen von dem Druck, den diese Bilder erzeugen, und stellen die Macht bloß, die von den Bildern ausgeübt wird; letztlich ermöglichen sie uns damit auch, die Frage nach der Macht hinter den Bildern zu stellen.
Das ist etwas, was Heike Sackmanns Arbeiten uns über den Moment der Betrachtung hinaus mitgeben: Was an der Oberfläche zu sehen ist, vermag uns tiefere Einsichten zu vermitteln, wenn wir nur in der Lage sind, die Elemente neu zusammenzusetzen. Ausgerechnet die alltäglichen, oberflächlichen Bilder können uns dabei helfen, neue Einsichten und andere Ansichten zu formulieren, den Bann der auf uns einstürmenden Bilder zu brechen und uns ihrer Macht zu entziehen.
(Hartwig Heckel – 2011)
” “Was am Tage übrig blieb”, , ISBN: 9781447843023